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Artikel

"Ich will das Land klimagerecht modernisieren."

Portraitfoto der Bundesvorsitzenden Annalena Baerbock
© Urban Zintel

Im Interview mit der ZEIT spricht die grüne Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock darüber, wie sie die Grundlagen für klimagerechten Wohlstand schaffen und die Wirtschaft ökologisch modernisieren möchte. Unternehmerinnen wie Gesellschaft seien viel weiter als die aktuelle Bundesregierung. Mit Blick auf die Wahlprogramme von GRÜNEN und Union entscheide die bevorstehende Bundestagswahl auch darüber, ob es in unserem Land wieder sozial gerechter zugehe.

Erstveröffentlichung in DIE ZEIT am 7. Juli 2021

Von Robert Pausch und Elisabeth Raether

DIE ZEIT: Ist der Klimawandel menschengemacht?

Annalena Baerbock:
Ja.

ZEIT:
Im Pariser Abkommen einigen sich fast alle Staaten der Erde darauf, die globale Erwärmung auf möglichst 1,5 Grad im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter zu begrenzen. Angenommen, Sie sind an der nächsten Regierung beteiligt, werden Sie an dem Abkommen festhalten?

Baerbock:
Auf jeden Fall.

ZEIT:
Der Bundestag hat gerade beschlossen, dass Deutschland in 23 Jahren und sechs Monaten klimaneutral sein soll. Werden Sie an dem Gesetz festhalten, wenn Sie der nächsten Regierung angehören?

Baerbock:
Dass die Union nach mehr als fünf Jahren Pariser Klimaabkommen jetzt Klimaneutralität fehlerfrei buchstabieren kann, spart keine Tonne CO₂ ein. Das Gesetz sieht keine konkreten Maßnahmen vor. Wichtigste und erste Aufgabe der nächsten Bundesregierung muss daher ein Klimaschutz-Sofortprogramm sein – mit konkreten Maßnahmen vom Verkehr bis zur Energieversorgung.

ZEIT:
Wir würden von Ihnen gern wissen, wo und wie Sie Emissionen einsparen wollen. Beginnen wir mit dem Verkehr, der in Deutschland ein Fünftel aller Emissionen ausmacht. Wird es mit Ihnen ein Tempolimit geben?

Baerbock:
Ja, aber für Klimaschutz im Verkehr braucht es deutlich mehr: saubere Autos, einen massiven Ausbau von Bus und Bahn.

ZEIT:
Wenn ein Tempolimit vergleichsweise wenig CO₂ spart, aber vergleichsweise stark polarisiert – lohnt es sich, an solchen symbolischen Maßnahmen festzuhalten?

Baerbock:
Mit keiner Maßnahme allein retten wir die Welt. Ein Tempolimit spart sofort CO₂ und bringt mehr Sicherheit auf den Straßen.

ZEIT:
Wie hoch wird der Benzinpreis 2025 sein?

Baerbock:
Die Groko hat einen CO₂-Preis beschlossen, durch den der Benzinpreis 2025 um etwa 15 Cent pro Liter teurer wird. Wir wollen diese Lenkungswirkung zwei Jahre früher und um einen Cent höher, um den Umstieg auf saubere Autos zu beschleunigen.

ZEIT:
Es gibt Wissenschaftler, die kritisieren, dass der von Ihnen vorgeschlagene CO₂-Preis von 60 Euro pro Tonne ab 2023 zu niedrig ist, um auf einen 1,5-Grad-Pfad zu kommen.

Baerbock:
Klimaschutz funktioniert nur, wenn er sozial gerecht ist. Deswegen muss es einen Mix geben aus einem CO₂-Preis, ordnungspolitischen Regeln und der Förderung von sauberen Technologien.

ZEIT:
Wenn Sie für einen Ausgleich sorgen, könnten Sie ja auch den CO₂-Preis pro Tonne erhöhen.

Baerbock:
Alles über den Preis zu machen hieße, dass sich einige immer rauskaufen können. Davon halte ich nichts.

ZEIT:
Ab wann soll Deutschland den Verbrennungsmotor verbieten?

Baerbock:
Wenn wir die Klimaziele erreichen wollen, dürfen spätestens 2030 nur noch emissionsfreie Autos neu zugelassen werden.

ZEIT:
Wie wollen Sie verhindern, dass Regionen wie das Saarland bald aussehen wie Detroit vor zehn Jahren – wegen des Strukturwandels in der Zuliefererindustrie?

Baerbock:
Indem anders als in den letzten Jahren nicht einfach der Industrie gesagt wird: gute Reise auf dem Weg zur Klimaneutralität, sondern aktive Industriepolitik betrieben wird. Wir können mit einem Industriepakt die Unternehmen unterstützen, die ihre Standorte in Deutschland halten. Etwa bei der Umschulung von Fachkräften: Der Staat zahlt dann ein Qualifizierungsgeld, ähnlich wie das Kurzarbeitergeld.

ZEIT:
Flugzeuge können bis auf Weiteres, sagen Experten, nicht anders als mit Kerosin angetrieben werden. Das heißt, die Zahl der Flüge muss in diesem Jahrzehnt abnehmen. Wer soll weniger fliegen?

Baerbock:
Der Flugverkehr muss schrittweise klimaneutral werden. Wir brauchen dafür vor allen Dingen grünen Wasserstoff zur Produktion von CO₂-freiem Treibstoff.

ZEIT:
Allen Prognosen zufolge wird es in den nächsten Jahren nicht ausreichend Wasserstoff geben.

Baerbock:
Deshalb sollten wir Wasserstoff nur dort einsetzen, wo es keine klimaneutrale Alternative gibt. Dazu gehört derzeit der Luftverkehr. Außerdem sollte Kerosin besteuert werden. Eine Krankenschwester, die zur Nachtschicht fährt, bezahlt Mineralölsteuer, aber der Manager, der am Wochenende seinen Kurztrip mit dem Flieger ans Mittelmeer macht, zahlt keine Kerosinsteuer.

ZEIT:
Eine Kerosinsteuer wäre nur im Rahmen internationaler Abkommen sinnvoll, das auszuhandeln dauert vermutlich Jahre. Beim Wasserstoff weiß man auch nicht genau, wann und ob und wie viel davon verfügbar sein wird. Was möchten Sie jetzt konkret, in den nächsten vier Jahren, unternehmen?

Baerbock:
Diese Mär, wir müssten erst darauf warten, dass die ganze Welt einen CO₂-Preis einführt oder eine Kerosinsteuer, das ist die Vorstellung von konservativer Politik, die nicht den Mut hat, voranzugehen. Natürlich kann eine Bundesregierung sofort in die Verhandlungen auf EU-Ebene einsteigen, national die Luftverkehrsabgabe an den Klimazielen ausrichten oder klimafreundliche Alternativen wie die Bahn stärken.

ZEIT:
Da dauert es aber wiederum auch ewig, bis mal eine Strecke fertiggestellt wird.

Baerbock:
Deshalb muss das schneller werden – mit einer Entschlackung der Planungsprozesse, mehr Fachpersonal für die Planung. Wir können nicht zwanzig Jahre lang darauf warten, dass Eisenbahnstrecken ausgebaut oder Stromtrassen gelegt werden. Bislang haben CDU und SPD die Klima-Infrastruktur aber bewusst ausgebremst, den Ausbau der erneuerbaren Energien gesetzlich gedeckelt. Das muss sich ändern.

"Politik heißt auch Führung. Wer aus Angst davor, dass irgendjemand dagegen sein könnte, gar nichts tut, verhindert, dass es vorangeht."
Annalena Baerbock

ZEIT: Das Problem sind ja in dem Fall nicht CDU und SPD, sondern Bürgerinitiativen, die gegen den Ausbau der Infrastruktur protestieren. Wir lesen Ihnen ein Zitat aus Ihrem Grundsatzprogramm vor: "Friedlicher zivilgesellschaftlicher Protest ist eine wichtige Ressource in einer lebendigen Demokratie, dafür kann auch gewaltfreier ziviler Ungehorsam ein legitimes Mittel sein."

Baerbock:
Die Blockade bei der Windkraft hat die Groko zu verantworten. Was wir brauchen, ist eine klare politische Haltung, die Klimaschutzmaßnahmen Priorität einräumt.

ZEIT:
Man kann sich schon vorstellen, dass die Leute einfach wirklich nicht wollen, dass so ein ICE vor ihrem Häuschen entlangbrettert.

Baerbock:
Wer unmittelbar betroffen ist, ist natürlich besonders kritisch. Das ist auch verständlich, und hier muss die Politik dafür sorgen, dass die Beeinträchtigungen so gering wie möglich gehalten werden. Politik heißt auch Führung. Wer aus Angst davor, dass irgendjemand dagegen sein könnte, gar nichts tut, verhindert, dass es vorangeht.

ZEIT:
Die Grünen sind groß geworden mit Protesten gegen Infrastruktur. Und heute wollen Sie das ganze Land zubauen.

Baerbock:
Ich will das Land klimagerecht modernisieren. Die Union will offenbar genau das verhindern. Sie macht Politik gegen saubere Autos, gegen schnelles Internet auf dem Land, gegen saubere Energien.

ZEIT:
Soll es weiterhin Billigflüge geben?

Baerbock:
Im Klimaschutzplan der Bundesregierung steht, sie wolle das Fliegen zu Dumpingpreisen stoppen. Passiert ist nix. Da müssen wir ran.

ZEIT:
Finden Sie, auch Nichtbegüterte sollten sich alles leisten können, was sich bislang nur Wohlhabende leisten können, zum Beispiel Flugreisen, guten Zahnersatz, gute Hörgeräte?

Baerbock:
Die Schere zwischen Arm und Reich ist in den letzten Jahren weiter auseinandergegangen. Daran ist nun kaum der Klimaschutz schuld. Wenn ich sehe, dass Union und FDP den besonders Wohlhabenden Milliarden schenken wollen, etwa durch die Abschaffung des Solis für die reichsten Einkommensbezieher, und zugleich gegen eine Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro sind, dann ist klar: Diese Bundestagswahl entscheidet auch darüber, ob es wieder sozial gerechter in unserem Land zugeht.

ZEIT:
Sie wollen die Einnahmen der CO₂-Steuer als eine Pro-Kopf-Prämie an die Bürger zurückzahlen. Können Sie versprechen, dass das Geld nicht doch für die Sanierung des Haushalts verwendet wird?

Baerbock:
Wir werden die Einnahmen als Energiegeld an die Bürger geben und die Stromkosten senken. Von unseren Vorschlägen profitieren besonders Geringverdiener, Familien und Mieter. Die CDU hingegen hat keinen sozialen Ausgleich vorgesehen und will zudem den CO₂-Preis für Wärme auf die Schultern der Mieter legen.

ZEIT:
Sprechen Sie eine Garantie aus, dass, wenn Sie an der Regierung sind, die Einnahmen über die CO₂-Steuer zurück an die Bürgerinnen und Bürger gehen?

Baerbock:
Dafür werde ich kämpfen.

ZEIT:
Christian Lindner sagt, er trete nicht in eine Regierung ein, die Steuern erhöht. Genauso können Sie sagen, Sie werden in keine Bundesregierung eintreten, die die Einnahmen aus der CO₂-Steuer nicht zurückgibt.

Baerbock:
An einer Regierung, die nicht alles dafür tut, auf den 1,5-Grad-Pfad von Paris zu kommen, werden die Grünen nicht beteiligt sein.

ZEIT:
Es heißt in der Debatte über Klimamaßnahmen oft, der Pendler mit dem alten Diesel könne nicht so schnell auf eine CO₂-arme Lebensweise umstellen. Dabei sind es ja die Wohlhabenden, die am meisten emittieren. Worauf sollten Wohlhabende Ihrer Meinung nach verzichten?

Baerbock:
Es geht nicht um Verzicht, aber um "anders". Und klar ist: Wer als Wohlhabender sehr CO₂-intensiv lebt, wird dafür in Zukunft stärker beteiligt werden als Geringverdiener.

ZEIT:
Ist die massive Reduktion von CO₂ innerhalb von knapp zwei Jahrzehnten eigentlich eine gesellschaftliche Revolution oder einfach nur eine technische Frage?

Baerbock:
Die Technologien stehen zur Verfügung. Wenn die Politik klare Rahmenbedingungen setzt, wird eine ökosoziale Marktwirtschaft klimaneutralen Wohlstand schaffen. Wenn wir als Industrieländer zudem dafür sorgen, dass durch unsere Technologien in anderen Teilen der Welt Menschen mit Solarkraft Strom und damit Wohlstand erzeugen können, dann ist das eine globale Revolution für mehr Gerechtigkeit.

ZEIT:
Die meisten Emissionen verursacht in Deutschland die Energiegewinnung, denn 80 Prozent der Energie stammen aus Erdöl, Erdgas, Kohle. Woher soll die Energie in Zukunft kommen?

Baerbock:
Aus Sonne und Wind, Wasser und Biomasse. Die Versorgung ist ein Dreiklang. Produktion in Deutschland; eine Energieunion in Europa, sodass wir Stromtrassen miteinander vernetzen, wenn auf der Nordsee der Wind weht und im Süden Europas die Sonne scheint; und Energiepartnerschaften weltweit, weil wir für grünen Wasserstoff Unterstützung von sonnenreichen Regionen brauchen.

ZEIT:
Haben die Gegner der Windkraft recht, dass wir unser Land vor lauter Windrädern bald nicht mehr wiedererkennen werden?

Baerbock:
Nein, es geht um zwei Prozent der Landesfläche. Wir müssen den Ausbau des erneuerbaren Stroms jetzt massiv vorantreiben, damit wir den Kohleausstieg vorziehen können, um überhaupt ansatzweise auf den 1,5-Grad-Pfad zu kommen.

ZEIT:
Die meisten Experten sagen, intensiv Tiere zu halten in einer klimaneutralen Welt, das gehe eigentlich nicht. Wie wollen Sie denn den Fleischkonsum der Deutschen reduzieren?

Baerbock:
Derzeit wird ein Drittel der Lebensmittel weggeschmissen, das heißt, irgendwas stimmt am System nicht, und zwar am Agrarfördersystem der Europäischen Union. Wir müssen dieses Dumpingsystem, das derzeit besteht, umstellen. Auch hier ist die Lebensmittelindustrie bereits weiter als die Bundesregierung. Führende Supermarktketten sagen, sie wollen in Zukunft nur noch Fleisch aus tiergerechter Haltung anbieten.

ZEIT:
Das bedeutet, dass das Fleisch in Zukunft deutlich teurer wird.

Baerbock:
Das bedeutet, den Umstieg auf eine nachhaltige Tierhaltung und Bio für Landwirte zu erleichtern.

ZEIT:
Also wird das Fleisch teurer.

Baerbock:
Unethische Dumpingpreise sollen jedenfalls der Vergangenheit angehören.

ZEIT:
Werden die Leute gar nicht merken, wie Deutschland klimaneutral wird? Oder werden die Veränderungen im Alltag spürbar sein, sagen wir in fünf Jahren?

Baerbock:
Einiges wird sich ändern, damit wir erhalten können, was uns wichtig ist. Aber anders heißt nicht schlechter. Wir werden saubere und leisere Autos haben – und damit Menschen entlasten, die an viel befahrenen Straßen wohnen. Wir werden Strom aus Erneuerbaren beziehen und müssen kein Grundwasser mehr abpumpen, um Kohle abzubauen.

ZEIT:
Wenn Sie in klimapolitischer Hinsicht an Deutschland in der Zukunft denken, was macht Ihnen am meisten Sorgen, was am meisten Hoffnung?

Baerbock:
Ich sehe mit Sorge, dass es Beharrungskräfte gibt, die mit der fossilen Welt viel Geld verdienen und derzeit alles dafür tun, Veränderungen zu verhindern. Allerdings sind zum Glück so viel mehr Menschen so viel weiter als die Bundesregierung.

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